… „Es ist eine persönliche Entscheidung des Gewissens“ Von Gregor Krumpholz und Karin Wollschläger (KNA)
Dresden (KNA) Mit Blick auf den Besuch der Weihnachtsgottesdienste in Corona-Zeiten appelliert der katholische Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers an die Eigenverantwortlichkeit jedes Einzelnen. „Egal, wie die Antwort ausfällt, erwarte ich, dass kein Anderer sie bewertet“, sagte Timmerevers in einem am Freitag veröffentlichten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
KNA: Herr Bischof, Sachsen ist einer der Corona-Hotspots mit Inzidenz-Werten teils über 600 in manchen Landkreisen, immer mehr Krankenhäuser kommen an ihre Kapazitätsgrenzen. Was empfehlen Sie angesichts der sich weiter zuspitzenden Situation den Gläubigen mit Blick auf die Weihnachtsgottesdienste?
Timmerevers: Die hohen Inzidenzen von heute sind die Notlage von morgen. Die Lage in Sachsen sei außer Kontrolle, sagte diese Woche Ministerpräsident Michael Kretschmer vor dem Sächsischen Landtag. Ein Ärztlicher Direktor auf dem Gebiet unseres Bistums hat diese Woche erstmals von Triage gesprochen. Das kann man einen Weckruf nennen, ich empfinde es als einen Hilfeschrei. Die Pflegekräfte sind am Limit. Und das seit Wochen. Die Toten zählen wir noch. Aber das persönliche Leid verschwindet zu schnell hinter den Zahlen.
Ich habe in dieser Woche lange und oft überlegt. Die Kirche will ihren Beitrag dazu leisten, dass das Land, und damit die Pandemie, zur Ruhe kommt. Ich kann nicht Weihnachten einen Gott verkünden, der Mensch wird und damit zum Leben „ja“ sagt und zugleich riskieren, dass wir weitere Infektionen in Kauf nehmen und Menschen dieser Gefahr aussetzen. Deswegen betone ich nochmals: Wir tun alles, dass die Gottesdienste an den Festtagen mit dem minimalsten Risiko einer Ansteckung stattfinden. Aber keiner ist ein schlechterer Christ, weil er Weihnachten von zu Hause mitfeiert oder die Botschaft direkt am Küchentisch mit seiner Familie teilt.
KNA: Also lieber von zuhause aus die Christmette im Fernsehen, Online-Stream oder Radio mitfeiern?
Timmerevers: Eines ist klar: „Stille Nacht, heilige Nacht“ und „O du fröhliche“ aus voller Kehle gibt es in diesem Jahr nur für jene, die zu Hause den Online-Stream mitverfolgen oder selbst auf dem Balkon anstimmen. Jeder soll die Geburt des Gotteskindes auf die Weise feiern, die er verantworten kann.
Ich persönlich werde gemeinsam mit Landesbischof Tobias Bilz am Heiligen Abend einen Gottesdienst im ökumenischen Seelsorgezentrum im Uniklinikum in Dresden feiern, der auch im MDR übertragen wird. Andere öffnen ihre Kirchen in der Nacht, damit die Menschen zum stillen Gebet kommen können. Leipzig wird 18.08 Uhr gemeinsam von den Balkonen „Stille Nacht“ singen. Andere bieten viele kurze Gottesdienste im großen Kirchenraum an. Viel Kreativität ist also dieses Weihnachten dabei. Wir sind gut vorbereitet.
KNA: Aber die Kirchen an sich bleiben offen?
Tinmerevers: Natürlich! Und ich hoffe, dass die Türen weit geöffnet sind. Denn angesichts des Leids brauchen wir im Moment die Orte des Trosts und der Hoffnung. Die Frage ist, wie wir es gestalten. Diese Pandemie fordert einen Spagat der Nächstenliebe. Nicht nur von Pfarrern oder Bischöfen, sondern von jedem Einzelnen. Es gibt vor Ort klassische Gottesdienste und gleichzeitig ein breites digitales und präsentisches Angebot an Alternativen. Es liegt in der eigenen Verantwortung, wie ich in diesem Jahr Weihnachten feiere. Rücksicht beginnt bei mir, nicht beim anderen. Auch ich hätte lieber in einer bis auf den letzten Platz besetzten Kirche das Geheimnis dieser Nacht gefeiert. Stattdessen führt mir dieses Weihnachtsfest eher die enge Verknüpfung mit Ostern vor Augen.
KNA: Warum ist Ihnen das wichtig?
Timmerevers: Kurz gesagt: Der Stall unserer Zeit sind die Krankenhäuser. Indem Menschen anderen helfen, wird Gott Mensch. Aber es leuchtet eben auch auf, dass jedem Werden ein Vergehen innewohnt. Der Leipziger Künstler Michael Triegel hat dies vor wenigen Jahren in seinem Gemälde „Menschwerdung“ hervorragend ins Bild gefasst: Das Jesuskind liegt schon auf dem Schweißtuch der Veronika, während Josef auf die Treppe nach oben zeigt, die das Kreuz andeutet. Weihnachten, Karfreitag und Ostern sind untrennbar miteinander verbunden. Deswegen wünsche ich mir, dass wir Christen in diesem Jahr nicht den Tod verherrlichen, aber den Menschen verkünden, dass das Leid unserer Tage nicht das letzte Wort hat.
KNA: Wie ist das für Sie als Bischof, wenn Sie Ihren Gläubigen – aus guten Gründen – empfehlen müssen, lieber an Weihnachten zuhause zu bleiben?
Timmerevers: Ich empfehle, Kontakte zu minimieren. Und wenn dazu der Verzicht des Gottesdienstbesuchs am Heiligabend einen Beitrag leistet, ist dies zu unterstützen. Natürlich bleibt es für mich ein Dilemma. Einerseits weiß ich um die Vielen, die in den vergangenen Jahrzehnten aus den besinnlichen Gottesdiensten an Weihnachten Kraft ziehen, im Glauben gestärkt und in ihrer Einsamkeit gestützt werden. Ich sehe aber andererseits auch das drohende Leid in den Altenheimen und Krankenhäusern. Und diese Abwägung bitte ich jeden selbst zu treffen: Brauche ich den Gottesdienst, um gestärkt meinen Glauben zu leben, oder kann ich in diesem Jahr angesichts der besonderen Umstände einen größeren Wert darauflegen, daran mitzuwirken, Leid an anderen Orten zu vermeiden?
Egal, wie die Antwort ausfällt, erwarte ich, dass kein anderer sie bewertet. Denn es ist eine persönliche Entscheidung des Gewissens. Zum christlichen Menschenbild gehören eben zwei Begriffe untrennbar dazu: Der eine ist Freiheit. Verantwortung ist der zweite. An Weihnachten nimmt sich Gott die Freiheit, Mensch zu werden, weil sie ihm nicht egal sind. Das darf auch der Anspruch im Jahr 2020 an alle Christen sein.
KNA: Was hat für Sie den Ausschlag zu dieser Empfehlung gegeben?
Timmerevers: Die Kirchen wie alle anderen Institutionen haben Regeln aufgestellt. Sie sollten Leid verhindern. Vielleicht wären die Zahlen heute höher, wenn wir manches davon nicht getan hätten. Aber die Zahlen sind zu hoch, als dass wir nicht noch mehr tun müssten. In den vergangenen Tagen hatte ich Kontakt mit Ärzten und Caritas. Alle haben mir von der prekären Situation vor Ort berichtet. Keiner davon hat nur im Ansatz behauptet, diese Pandemie sei geleugnet oder medial überzogen. Überall im Land herrscht eine Knappheit an Betten und Personal. Die Lage ist ernst.
Demütiges Handeln statt Panik ist die Antwort. Deswegen habe ich mich immer wieder gefragt, was wir als Kirche jetzt tun können, um größeres Leid zu verhindern. Dazu gehört auch, dass ich in der kommenden Woche nochmals mit den Ärztlichen Direktoren der katholischen Krankenhäuser telefoniere, um unmittelbar von der Situation vor Ort zu erfahren und zudem zu hören, ob sie von unserer Seite Unterstützung benötigen.
KNA: Inwieweit hat die Einschätzung der Lage durch die Landesregierung und die evangelische Kirche dabei eine Rolle gespielt?
Timmerevers: Wir sind sowohl ökumenisch als auch mit der Regierung im beständigen Austausch. Ich bin dankbar, dass auch in dieser kritischen Zeit uns die Freiheit gewährt wird, selbst die Ausübung unserer Religion zu gestalten. Dass der Ministerpräsident dabei zuletzt sein persönliches Verhalten zum Maßstab des Verhaltens für alle machte, hat mich überrascht. Vielleicht ist es aber der Besonderheit dieser Zeit geschuldet. Immerhin ist es auch eine Seltenheit, dass im sächsischen Parlament ein Ministerpräsident ausführlich die Weihnachtsgeschichte auslegt.
KNA: Was wünschen Sie den Menschen in Sachsen?
Timmerevers: Ich wünsche den Menschen, dass Sie Zuversicht und Hoffnung schöpfen, egal ob sie am Bildschirm, in der Familie oder vor Ort mitfeiern. Das erste Wort der Weihnachtsbotschaft ist: „Fürchtet euch nicht.“ Ich hoffe sehr, dass diese Zusage auch 2020 im Herzen der Menschen Widerhall findet.